Bildungsrealismus & -pragmatismus

Kommentar zum Artikel “Genug der Apokalypse

Professor Pörksen spricht von der Mitte der Gesellschaft,Screenshot 2018-12-13 at 12.16.09 sieht sie aber meines Erachtens nicht in der Gesamtheit, sondern vielmehr im Durchschnitt. Es geht uns in der Tat durchschnittlich sehr gut. Sozial bröckelt es an den Rändern: Antisemitismus, Übergriffe auf Minderheiten und Geflüchtete. Die AfD symbolisiert und repräsentiert diese Trends – am rechten Rand. Die Benennung dieser Phänomene ist kein Fatalismus, auch wenn sie fatal ausfallen könnten, und kein apokalyptischer Pessimismus, auch wenn sie in einer Apokalypse münden könnten. Sie sind vielmehr eine reale und realistische Zustandsbeschreibung. Recht hat Herr Pörksen, wenn er schreibt, die Argumentation darf nicht deterministisch geführt werden. Die Temporalität des Seins wird häufig übersehen und von der AfD zum Nationalsozialismus ist es ein weiter Weg. Aber: wenn jemand wie Professorin Foroutan von präfaschistischen Zeiten spricht, dann ist es genau das Präfix „prä“, das eine solche Relation herstellt und uns wachrütteln –  nicht resignieren – lassen soll. Es ist keine apocalypse now, aber eben durchaus möglicherweise eine apocalypse tomorrow.

Es braucht also einen Realismus in der Zustandsbeschreibung und dann zielgerichtete Lösungsansätze. Gerne können diese auf eine optimistische Gesellschaft treffen. Nur müssen sie sich in der Realität bewähren. Herr Pörksen schreibt, Pessimismus sei der Mangel an Ideen. Jein! Es bedarf Ideen, aber eben auch der Umsetzung. Innovation ist Idee plus Implementierung. Ich denke, Ideen haben wir einige. Es fehlt an der Fähigkeit und den Willen mit pluralen Meinungen und Ideen gemeinsam umzugehen, um Einheit in Vielfalt zu schaffen. Dafür braucht es nicht einfach einen Bildungsoptimismus, sondern eine Bildungsbefähigung: eine Ermächtigung durch Bildung und Wissenschaft, um einerseits mit pluralen Ansätzen umgehen und anderseits die großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit angehen zu können.

Mit anderen Worten: es braucht einen Bildungsrealismus & -pragmatismus.

Ein paar weitere Gedanken hier unter ‘Weisheit’ und hier zur Humboldt’schen Bildungsrenaissance.

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Gesellschaftliche Herausforderungen

“…ein Sturm weht vom Paradiese her…” – Walter Benjamin

Wir leben in interessanten Zeiten. ‚Interessante Zeiten’ ist Teil einer Redewendung, die auch als chinesischer Fluch bezeichnet wird. Mit Blick auf den wachsenden Populismus in Europa und der Welt passt es also recht gut, von interessanten, schwierigen, bedrückenden Zeiten zu sprechen – und zu schreiben.

Im Rückblick wie im Ausblick der Societas Futura Konferenz schweifen meine Gedanken daher sehnsüchtig zurück in die Zukunft. Wie wichtig fiktionale Erwartungen sind, zeigt insbesondere auch der Soziologe und aktuelle Gewinner des Leibnitz-Preises Jens Beckert (2018) auf. Insofern stellen sich zukunftsgewandte Fragen, wie wir die Gegenwart gestalten wollen, um eine Zukunft zu erleben, in der wir uns in den Spiegel schauen können werden. Denn eine societas futura ist ein (nur) scheinbar paradoxes, zukunftsgerichtetes Projekt der Gegenwart.

Arbeit der ZivilgesellschaftDieses Spannungsfeld der Temporalität des Wirkens, in der eben nicht nur Vergangenheit zählt, sondern auch die Zukunft auf uns einwirkt, hat Walter Benjamin (2010) treffend umschrieben: „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“

Die Arbeit der Zivilgesellschaft ist beides: zugleich Objekt der Betrachtung und Subjekt-Aktivierung. Zivilgesellschaft, ruhe dich nicht aus. Dafür sind die Zeiten zu ‚interessant’. Andere mögen sich müßig an die Veranda anlehnen, doch wir müssen aufstehen und Werte verteidigen, die doch eigentlich nicht einmal zur Disposition stehen dürften. Es bedarf einer gesellschaftlichen Mitte, die für eine radikale Normalität eintritt. Wenn der gesellschaftliche Diskurs so marode und aggressiv online und so folgereich offline gelebt und erlebt wird, dann werden Luther’s berühmte Worte in einer ganz neuen Bedeutung hochaktuell: Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.

Hierfür reichen (leider) nicht nur Ideale. Es braucht auch Ideen. Ich sprach in den letzten Monaten vor Führungskräften in Ländern wie Deutschland, Großbritannien, Indonesien, Pakistan und Marokko. Für die Beschreibung der Welt benutze ich dabei gerne das Akronym ‚vuca’, welches für volatile, uncertain, complex und ambiguous steht. Man könnte noch paradox hinzufügen. Denn Führungskräfte sagen mir anders als Populisten, es gäbe wenig schwarz-weiß und einfach viel grau in ihrem Entscheidungshorizont. Die Welt ist eben volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig. Ja, und auch paradox.

Mehr denn je, führt ein „weiter so“ in ein „nirgendwo“. Wie Führungskräfte müssen wir wohl alle Grundsätzliches neu bedenken und überdenken. Die Wissenschaft hat lange zur Flüchtlingskrise geschwiegen – sicherlich auch, weil Wissenschaft teils berechtigterweise eine sich langsam mühende Profession ist (Gümüsay, 2015). Dabei kann sie eigentlich wichtige Impulse setzen, wenn sie z.B. die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten mit dem Konzept der Sharing Economy verknüpft und darstellt, dass das Teilen nie nur materiell, sondern eben sozio-materiell ist (Gümüsay, 2018; Kornberger, Leixnering, Meyer, & Hoellerer, 2018). Und auch die societas futura wird sich nicht an dem Wachstum des Bruttoinlandsproduktes messen, wenn es in der Zukunft zurückblickt.

Dies ist ein Ausschnitt aus dem Kapitel, das ich für das Buch “Die Arbeit der Zivilgesellschaft” schrieb.